Kommentar | Integration auf Knopfdruck – Wie fehlende Strukturen eine nachhaltige Integration in ländlichen Regionen erschweren
Da sind sie wieder, die altbekannten Schlagwörter: Verteilung, Registrierung, Unterbringung, Sprachkursangebote, Intensivklassen, Kitaplätze, Integration in gesellschaftliche Strukturen und in den Arbeitsmarkt. Was sich anfühlt wie ein Déjà-vu, ist traurige Realität. Erneut sucht eine große Anzahl von Menschen in Deutschland Schutz. Schutz vor Tod, Leid und Zerstörung.
Nach dem Mauerfall und den großen Fluchtbewegungen der 90er Jahre sowie zuletzt seit 2015/2016 sind wir jedoch bestens gewappnet. Politisch Verantwortliche sind themenspezifisch auf allen Ebenen vernetzt. Kommunalpolitiker:innen werden zu Projektentwicklung und Fördermittelbereitstellung angehört und aktiv eingebunden. Bundes- und Landesprogramme berücksichtigen die infrastrukturellen und gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten aller potenziellen antragstellenden Landkreise, Städte und Kommunen. Mitarbeitende in dem Themenfeld kooperieren auf kommunaler-, Landes- und Bundesebene und profitieren von ihren jeweiligen Erfahrungen. Leistungsbehörden haben Abläufe standardisiert. Ohnehin wissen wir als Einwanderungsland, dass es mehr gibt als Unterbringung und Erstversorgung, wenn Schutzsuchenden nachhaltig die Teilhabe an bestehenden gesellschaftlichen und institutionellen Angeboten ermöglicht werden soll. Zu guter Letzt steuert das Bundesministerium für Vielfalt und Integration alle Belange rund um Einwanderung, Integration und Teilhabe als Querschnittsthema zentral auf Bundesebene. Ergänzt durch entsprechende Landesministerien und flächendeckende Integrationsgesetze, die Integration als Pflichtaufgabe der Landkreise und Kommunen festlegen, wird Integration bis in die Gemeinden und Städte vor Ort vorangetrieben und begleitet. Dieser migrations- und integrationspolitische Idealzustand ist leider Wunschdenken.
Es bleibt die Erkenntnis, dass wir an dieser Stelle noch weit von dem entfernt sind, was sich ein modernes und zielgruppenorientiertes Einwanderungsland nennen darf. Nicht zuletzt trifft dies insbesondere ländlich geprägte und meist auch strukturell abgeschlagene Regionen. Warum dies so ist, schauen wir uns im Folgenden an.
Integration ist ‚was für Großstädte
In der Regel gerät man bei Debatten und Diskussionen um Integration und Teilhabe immer an den Punkt, an dem mehrheitlich festgestellt wird, dass Integration ländlich geprägte Räume nicht so stark betreffe. Städte wie Berlin, Bremen, Essen, Frankfurt oder das in Hessen gerne gewählte Beispiel Offenbach seien eher in der Pflicht, sich weitreichend mit der Thematik zu beschäftigen. Hier spielen verschiedenste Faktoren eine Rolle. Zunächst geht es in der Kommunalpolitik grundsätzlich wenig um Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Fokus ländlich geprägter Kommunen liegt beispielsweise häufig auf Themen wie der Sanierung von Kreis- und Gemeindestraßen, landwirtschaftlichen Infrastrukturen, dem Verwalten und Vermarkten von Waldbeständen sowie dem Betreiben und Instandhalten eigener Gebäude. All das sind plakative, praktische und klar definierte Bereiche, in denen pragmatische Lösungsansätze gefragt sind. Integrationsarbeit jedoch ist kein klar definierter und in einem Organigramm abbildbarer Arbeitsbereich. Integration ist ein Querschnittsthema, welches auch nur dann nachhaltig erfolgreich sein kann, wenn dies so es als solches verstanden wird. Des Weiteren sind pragmatische Lösungsansätze sicherlich auch im Themenfeld Integration hilfreich. Sie sind aber nur dann effektiv, wenn sie im Rahmen einer Gesamtstrategie eingesetzt werden. Das führt dazu, dass sich auf kommunaler Ebene nicht tiefergehend mit dem Thema beschäftigt wird und so zahlreiche Chancen und Potenziale nicht genutzt werden.
Nicht minder interessant ist an dieser Stelle zudem die Tatsache, dass Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte sowohl in politischen Gremien auf Bundes-, Landes- und insbesondere auf kommunaler Ebene gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert sind. Betrachtet man nun Parlamente auf kommunaler Ebene in ländlichen Regionen, so ist von weitaus niedrigerer Quote im Vergleich zu Ballungszentren auszugehen. Die geringe Anzahl von Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte führt auch dazu, dass Themen, die eben genau diese Zielgruppe betreffen, kein Gehör im kommunalen politischen Geschehen finden. Oder anders ausgedrückt: man muss schon sehr lange nach einem Koalitionsvertrag in einem ländlich geprägten Landkreis suchen, in welchem dem Wort Integration, wenn überhaupt, mehr als eine Zeile gewidmet wird. Ist dies tatsächlich der Fall, geht es primär um Themen wie Erstunterbringung und die grundsätzliche Versorgung schutzsuchender Personen; also ein klassisches Pflichtthema, welches nur so nach pragmatischen Lösungen verlangt. Durch das Fehlen von Vorbildern in der kommunalen politischen Arbeit wird auch bei heranwachsenden Jugendlichen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte das Interesse an einem Engagement nicht geweckt. Ein ähnliches Phänomen ist auch bei der Gewinnung von Mitarbeitenden aus dieser Zielgruppe für die öffentlichen Verwaltungen zu beobachten.
Ein weiterer wichtiger Faktor bezüglich Integration und Migration ist die Tatsache, dass Integration keine Pflichtaufgabe für Kommunen darstellt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Bemühungen auf diesem Gebiet auf reiner Freiwilligkeit beruhen. Freiwilligkeit bedeutet, dass ein Landkreis beispielsweise eigene Mittel einbringen muss, um Projekte umzusetzen. Diese Mittel finden aufgrund der Freiwilligkeit keinerlei Erstattung durch das Land oder den Bund. Bei den finanziellen Anforderungen an Kommunen und deren grundsätzlicher Ausstattung lässt sich vermuten, dass bei der Fülle an Pflichtaufgaben und dem rückläufigen Angebot an Personal der Einsatz von Mitteln für freiwillige Leistungen nicht zu den genuinen Handlungsfeldern einer Verwaltung gehört. So sind Kommunen und Landkreise letzten Endes auf externe Fördermittel wie beispielsweise jene von Landes- und Bundesebene angewiesen.
Bundes- und Landesprogramme
Wo sollte sich eigentlich konkret darüber Gedanken gemacht werden, wie sich ein modernes und vielfältiges Einwanderungsland aufstellen muss und welche Strukturen geschaffen werden müssen? In der Regel werden diese Themen in der öffentlichen Wahrnehmung grundsätzlich auf Bundesebene diskutiert. Aber sind es nicht die Länder und vor allem die Kommunen, die letzten Endes die konkrete praktische Umsetzung der breit gefächerten Debatte um Migration und Integration übernehmen müssen?
Kommunen kennen ihre Gegebenheiten vor Ort. Sie wissen um die vorhandenen Bevölkerungsstrukturen und können dort effektiv und effizient eingreifen. Aus der Praxis eines Integrationsbeauftragten in einer ländlich geprägten Region, sage ich ganz klar: Ja, das könnten sie. Realistisch betrachtet fehlen hierzu leider, wie bereits festgestellt, oftmals sowohl die Mittel als auch die kommunalpolitische Priorisierung der Thematik. Dies führt dazu, dass die Landespolitik reagiert und ihrerseits durch diverse Projekte und Förderungen den Kommunen unter die Arme zu greifen versucht. Das große Manko: Diese Überlegungen und Projektschmieden finden in den Landeshauptstädten statt. Sie werden dort in den Büros der Ministerien oft gemeinsam mit Universitäten und Migrations- und Integrationsforschenden zusammengeführt, um dann nach dem Gießkannenprinzip über das ganze Land gegossen zu werden. Sie erfordern ein hohes Maß an Konzeption, Vorarbeit, Nacharbeit und Kommunikation. Als ländliche Region stößt man im Laufe eines solchen Verfahrens auf verschiedene Indizien dafür, dass eben bei dieser Projektentwicklung die ländlichen Räume komplett außer Acht gelassen worden sind. Ein klassisches Beispiel hierfür ist, dass Sprachförderprogramme keine Berücksichtigung von Fahrtkosten für Teilnehmende beinhalten. Das mag in einer Stadt funktionieren. Will man jedoch in einem ländlich geprägten Raum Menschen zu einem Sprachkurs zusammenführen, muss man sich in erster Linie Gedanken darüber machen, wie diese Menschen von ihrem Wohnort in die nächstgelegene Sprachschule gelangen können, ohne dafür monatlich ein Viertel ihrer Leistungen aufbringen zu müssen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass wir definitiv eine engere Einbindung von ländlich geprägten Regionen in die Entwicklung von Förderprojekten benötigen. Um eine standortspezifische und effektive Umsetzung im Sinne der Zielgruppe in ländlichen Regionen zu erreichen, müssen verschiedene Fördertöpfe und Anforderungen für Stadt und Land etabliert werden. Kommunen und Landkreise müssen unmittelbar in die Entwicklung eingebunden werden. Ein letzter wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass wir grundsätzlich weg von zeitlich begrenzten Förderungen hin zu langfristig etablierten Strukturen müssen. Denn schauen wir auch hier einmal in die Praxis, so sehen wir, dass nur ein geringer Anteil der Projektstellen auch nach Einstellung der Förderung noch vor Ort besetzt werden. Aber nicht nur die Konzipierung und Kommunikation spielen hier eine Rolle, sondern auch die bestehenden Strukturen in ländlichen Kommunalverwaltungen, in denen Maßnahmen umgesetzt werden sollen.
Die allgemeinen Verwaltungsstrukturen
Integration und Verwaltung: Passt das eigentlich? Kann man eine klassische kommunale Verwaltung damit beauftragen, das Thema Integration vor Ort umzusetzen? Die Antwort: Ja, man kann! Man sollte sie dazu aber verpflichten und finanziell ausstatten. In diesem Text wurde bereits darauf hingedeutet, dass Integration als freiwillige Leistung auf kommunaler Ebene an ihre Grenzen stößt. Bisher wurde der kommunalpolitische Aspekt beleuchtet. Schauen wir uns jedoch zudem den Aspekt der Verwaltung als Institution an, die für die praktische Darstellung und Umsetzung verantwortlich ist, wird deutlich, dass wir auch hier Vorbehalte auffinden. Eine klassische Verwaltung sieht für die Thematik Integration und Migration zunächst grundsätzlich keine Organisationsstruktur vor. Wie auch, wenn sich das Thema als Querschnittsthema nicht wirklich in ein klassisches Organigramm fassen lässt? Häufig ist der Bereich Integration personell den sozialen Fachbereichen zugeordnet. Man geht hier demnach grundsätzlich davon aus, dass es ein soziales Thema zu bearbeiten gilt. Schaut man jedoch in diese sozialen Bereiche der kommunalen Verwaltungen, so werden hier gesetzliche Leistungen bearbeitet und keinerlei Konzepte, Gesamtstrategien oder eigene Projekte und Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Die Diskrepanzen zwischen dem eigentlichen Aufgabenfeld und dem Feld der Integrationsarbeit sind enorm. So bestehen beispielsweise keine Konzepte und/oder Ideen, wie ein solcher Arbeitsbereich aufgebaut werden soll. Das Handeln von Verwaltungen in ländlichen Regionen ist stark von den Personen abhängig, die mit dieser Aufgabe betraut werden. Es werden keine nachhaltigen Strukturen erarbeitet und etabliert. Dies hemmt das Potenzial und führt zu Spannungen mit Vorgesetzten und Kolleg: innen. Um dem entgegenzuwirken, muss das Themenfeld als Querschnittsthema auf höchster politischer Ebene angesiedelt werden. Hier jedoch sind wir beim bereits genannten Punkt der mangelnden Priorität dieser Thematik auf kommunalpolitischer Ebene in ländlichen Regionen. Es fehlt an Ideenreichtum und Engagement seitens politisch verantwortlicher Personen. Ein Mittel dem entgegenzuwirken, ist die gesetzliche Verpflichtung durch die Länder. Auf diesem Weg müssen sich kommunale Verwaltungen in ländlichen Regionen mit der Thematik auseinandersetzen und für die Umsetzung einen entsprechenden Platz in den jeweiligen Organigrammen finden. Nicht minder relevant ist hierbei die Rolle der Zivilgesellschaft und insbesondere der Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Familiengeschichte.
Vom sich Organisieren und Einfordern
Im Volksmund heißt es: „Wer nichts sagt, dem kann nicht geholfen werden“. Betrachtet man diese Aussage im Kontext der Integration in ländlichen Regionen, trifft man auf einen essenziellen Kernpunkt. In ländlich geprägten Regionen ist die Anzahl von sogenannten migrantischen Organisationen sehr gering und wenn es sie gibt, bestehen diese in der Regel auf Grundlage religiöser Zusammenkünfte wie DITIB oder türkisch-islamische Vereine etc. Sie sind niedrigschwellig aufgebaut und befassen sich im Kern nicht mit tiefergehenden Problemstellungen der migrantischen Communities. Dabei ist es von größter Relevanz, dass sich Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte organisieren, sich Themen annehmen, ihre Meinung kundtun und eine lautstarke Kultur des Forderns etablieren. Auf dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik sind diese Bewegungen im Entstehen. Es sollte daran gelegen sein, dieses Entstehen auch in ländlichen Regionen ernsthaft zu verfolgen und zu unterstützen, will man eine politische Beteiligung dieser Bevölkerungsgruppe tatsächlich voranbringen. Einige Unterstützungsangebote gibt es beispielsweise in Hessen. Sie setzen dort an, wo eine Vereinsgründung auf den Weg gebracht werden soll. Sie begleiten und unterstützen bei der Kommunikation und Organisation zu einem Verein. Was hier jedoch benötigt wird, ist ein Ansatz, der zu einem früheren Zeitpunkt beginnt. Bereits Kinder und Jugendliche müssen abgeholt und für Vereinsarbeit und das Eintreten für ihre Anliegen und Probleme motiviert werden. Hier spielt auch das Thema der Elternbildung eine tragende Rolle. Eltern müssen für diese Angebote einer demokratischen Gesellschaft sensibilisiert und dementsprechend aufgeklärt werden. Was mit mühsam erarbeiteten Rechten wie der demokratischen Wahl von Ausländerbeiräten passiert, wenn gerade in jungen Generationen ein zu geringes Interesse an diesen Gremien besteht, zeigt das Land Hessen. Hier wurde den Städten und Gemeinden die Möglichkeit eingeräumt, anstatt Wahlen zu Ausländerbeiräten durchzuführen, eine sogenannte Integrationskommission einzuberufen, welche aus in das jeweilige Parlament gewählten Parlamentarier:innen besteht. Wenn wir uns daran erinnern, was klassische Bereiche sind, mit denen sich Kommunalpolitiker: innen in ländlichen Regionen beschäftigen, ist der tatsächliche Nutzen für Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte in ländlichen Regionen zumindest vorsichtig zu hinterfragen. An dieser Stelle ist sicherlich davon auszugehen, dass Ballungszentren und Großstädte auch weiterhin Ausländerbeiräte wählen werden.
Was bleibt?
Aladin El-Mafaalani beschreibt in seinem Buch „Das Integrationsparadox“, wie gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Er trifft die Annahme, dass Deutschland auf einem unumkehrbaren Weg zu einer vielfältigen und offenen Gesellschaft ist. Grund dafür sei, dass verglichen mit den letzten Jahrzenten auf der einen Seite eine selbstkritische, ihre Privilegien als weiße Europäer:innen hinterfragende sogenannte „biodeutsche“ Generation herangewachsen ist, die Rassismus und Ausgrenzung klar benennt, kritisiert und sich davon distanziert. Auf der anderen Seite stehe eine Generation von Menschen mit eigener und/oder familiärer internationaler Geschichte, die sich nicht mehr, wie vielleicht ihre Großelterngeneration, mit Krümeln des großen Kuchens zufriedengibt, sondern mit am Tisch sitzen will und ggf. sogar die Art des Kuchens bestimmen möchte. Das alles führe zu Reibungen, Diskussionen und Konflikten. Diese Einschätzung ist sicherlich eine positiv optimistische Einschätzung, welche Lust auf die Zukunft in einem vielfältigen und gerechten Einwanderungsland macht. Optimismus ist ein guter Begleiter, wenn man sich täglich mit dem Thema Migration und Integration beschäftigt. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass wir mehr tun müssen. Integration und die damit verbundene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dürfen keinen zufälligen Entscheidungen und einzelnen Personen überlassen werden. Wir müssen weg von einem „nice to have“ hin zu einem „must have“. Gesetze müssen in Zusammenarbeit mit Betroffenen und deren Organisationen sowie Wissenschaft und Politik erarbeitet und regelmäßig auf ihre Aktualität und Effektivität überprüft werden. Gelungene und positive Integration ist kein Zufall, sondern braucht eine nachhaltige und strukturelle Verankerung, gerade in ländlichen Regionen.
Latif Hamamiyeh Al-Homssi