Erfahrungsbericht | Lernreise „Soziale Folgen der EU-Arbeitsmarktmigration im Weißenfelser Stadtteil Neustadt“

Veröffentlicht am: 17.02.2022
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Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.
Matthias Claudius (1740-1815), Dichter und Journalist

Eine Lernreise – Wozu?

Das Programm „Land.Zuhause.Zukunft.“ ermöglicht es allen teilnehmenden Landkreisen, eine Lernreise zu machen – doch wozu?
Ausgangspunkt einer Lernreise sollte eine möglichst konkrete Problemstellung im Bereich der Integration Zugewanderter sein – im Rahmen des Programms widmet sich jeder Landkreis einem Schwerpunkt. Hier kann ggf. noch konkretisiert werden: Worin besteht die Herausforderung? Wo kommen wir mit unseren bisherigen Mitteln und Ansätzen nicht weiter?
Eine Lernreise geht über das Vorstellen eines Best-Practice-Modells hinaus: Vor Ort selbst zu sehen, wie Projekte aufgebaut sind, wie Prozesse ablaufen und in welchen Rahmenbedingungen gearbeitet wird, ist sehr wertvoll. Meist werden die gezeigten Lösungen nicht eins zu eins im eigenen Landkreis umgesetzt werden können – aber die Lernreise bietet einen schwungvollen Auftakt für einen Veränderungsprozess. Der Burgenlandkreis und die Stadt Weißenfels haben im Oktober 2021 eine zweitägige Lernreise mit 16 Teilnehmenden nach Rheda-Wiedenbrück unternommen. Unsere Erfahrungen schildern wir in diesem Reisebericht.

Unser Ausgangspunkt: Die Weißenfelser Neustadt – ein Stadtteil in einer ostdeutschen Kleinstadt mit Problemen, wie sie sonst in großstädtischen Kontexten zu finden sind.

Die Weißenfelser Neustadt kämpft mit einer Vielzahl an Herausforderungen, die mit der ganz besonderen Situation des Stadtteils zusammenhängen: Weißenfels liegt im südlichen Sachsen-Anhalt, unweit von Halle und Leipzig. Am Rand des Stadtteils hat sich ein Unternehmen der Fleischindustrie niedergelassen. Die körperlich herausfordernde Arbeit erledigen Menschen größtenteils aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Neben der hohen Fluktuation der Werksarbeitenden prägt auch ein schlechtes städtebauliches Bild den Stadtteil. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Bevölkerung der Neustadt lebt von staatlichen Transferleistungen (23%) und es gibt kaum Angebote zur Freizeitgestaltung.

Mehrwert und Lerninhalte

Um die richtigen Partner:innen für eine Lernreise zu finden, sollte man sich zunächst darüber im Klaren sein, was das Ziel der Reise ist: Was ist der Mehrwert? Was soll konkret „gelernt“ werden? Ansatzpunkt für unsere Lernreise war die Vermutung, dass die Stadt Rheda-Wiedenbrück vor ähnlichen Herausforderungen wie Weißenfels stehen müsse – schließlich gibt es in Rheda-Wiedenbrück einen ähnlichen Schlachthof der gleichen Firmengruppe. Nach der Kontaktaufnahme mit dem Ersten Beigeordneten der Stadt Rheda-Wiedenbrück, Dr. Georg Robra, war klar, dass hier nicht nur Parallelen bestehen, sondern auch schon Handlungsansätze und Lösungsmöglichkeiten entwickelt wurden. Im nächsten Schritt haben wir gemeinsam mit unserem Partner die Lernreise skizziert. Leitfragen unserer Lernreise waren etwa:

1. Wie gegen Sie als Stadt mit den Begleiterscheinungen der EU-Arbeitsmigration um?

2. Wie sind die Zuständigkeiten zwischen Stadt und Landkreis verteilt?

3. Welche Angebote gibt es für EU-Bürger:innen bei Ihnen?

4. Wie sieht Ihre Integrationslandschaft aus?

5. Wie sieht ein Zuzugsprozess bei Ihnen aus?

6. Welche Beziehungen pflegen Sie zu großen Arbeitgebern von EU-Migranten?

Bei der Auswahl der Teilnehmenden für die Lernreise folgten wir dem Rat von Dr. Robra, einen möglichst breiten Teilnehmendenkreis einzuladen. Integration als Querschnittsaufgabe zu denken, hieß hier, Verantwortliche aus allen Bereichen einzubeziehen: Ordnung, Schule und Kita, Jugendamt, Ausländerbehörde, Bauaufsicht, Integration und Gleichstellung. An dieser Stelle entwickelte die Lernreise eine Dynamik, die vorher nicht vorhanden war – es bestand reges Interesse an der Lernreise – vom Oberbürgermeister über den Landrat bis hin zum Ministerpräsidenten. Damit entwickelte sich ein gewisser Erfolgsdruck aber auch die Möglichkeit, Gesehenes und Gehörtes tatsächlich in Weißenfels anzuwenden. Hier kann es sinnvoll sein, Tandems zu bilden: Personen aus der lehrenden und der lernenden Kommune mit jeweils ähnlichem Arbeitsgebiet können zu Kernakteur:innen der Lernreise werden.
Auch wenn die Einbeziehung der Führungsebene sehr wichtig ist, kann es sinnvoll sein, auch die „Arbeitsebene“ eines jeden Bereichs zu beteiligen. So wird die Lernreise konkreter und das Gelernte fassbarer und einfacher umsetzbar.

Vor Ort – mit vielen Augen sehen

Zwei Tage lang erlebten wir ein volles Programm: Die Stadt Rheda-Wiedenbrück führte uns in alle Verwaltungsprozesse ein, die zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant:innen eingeführt wurden. Es wurde deutlich, welche Strukturveränderungen nötig sind, um sich der Herausforderung zu stellen. Besonders interessant war auch der Entwicklungsprozess seit 2014. Wir reisten mit ganz neuen Perspektiven ab, im Koffer das „Rheda-Wiedenbrücker-Modell“.

Unsere Erkenntnisse – die Lernreise als Möglichkeit, Veränderungsprozesse anzustoßen

Unabhängig von den Lerninhalten konnten wir folgende Erkenntnisse sammeln:

Nach der Lernreise beginnt die eigentliche Arbeit. Denn 16 Teilnehmende reisen mit 16 Perspektiven ab: Wir müssen uns darüber verständigen, was wir gesehen haben und was bei der Umsetzung in der eigenen Kommune machbar ist. Hierbei müssen Gemeinsamkeiten erkannt und Unterschiede zwischen den beiden Kommunen ernst genommen werden. Was können wir übernehmen? Wo sind Anpassungen notwendig?

Der Kommunikationsprozess muss weitergeführt werden - auch nach dem intensiven Austausch (im Auto und am Abend). Konkret haben wir dazu eine Zusammenfassung der Lernreise verfasst, das Rheda-Wiedenbrücker-Modell grafisch dargestellt und alle Teilnehmenden nach ihren Eindrücken gefragt.

Wie geht es weiter? Der Transfer des Gelernten auf eigene Herausforderungen ist die höchste Form des Lernens und muss nach der Lernreise gut begleitet werden. Ein gemeinsamer „Nachlese“-Termin vier Wochen nach der Lernreise blickt zurück, fasst zusammen und bietet die Gelegenheit, gemeinsam Veränderungsprozesse anzustoßen. Wir haben diesen Workshop auch für eine interkommunale Verständigung sowie für die Etablierung von Arbeitsgruppen genutzt. Bis Ende Januar 2022 werden diese Gruppen nun das Gelernte auf die Bedingungen in Weißenfels übertragen.

Zum Hintergrund:

Im Rahmen des Programms „Land.Zuhause.Zukunft.“ arbeiten der Burgenlandkreis, die Volkshochschule, das forum ehrenamt und die Stadt Weißenfels gemeinsam an Möglichkeiten, den Stadtteil Neustadt für seine Bewohner lebenswerter zu gestalten.  Eine Online-Umfrage in sechs Sprachen (1.000 Rückmeldungen) und ein Freiluft-Dialog (55 Teilnehmende) haben gezeigt, dass es viele Ideen und zu wenige Begegnungsmöglichkeiten in der Nachbarschaft gibt. Unter dem Motto „Draußenort - Neustadtpark“ kommen nun ehrenamtlich engagierte Personen und vereinzelte Initiativen (wie AG Neustadt) zu einem Netzwerk zusammen.

Ein herzliches Dankeschön an das Programm „Land.Zuhause.Zukunft.“ der Robert Bosch Stiftung und der Universität Hildesheim für die Möglichkeit zur Lernreise und an die Stadt Rheda-Wiedenbrück (insbesondere Herrn Dr. Georg Robra und Larissa Varol), die uns mit offenen Armen empfangen und uns mit auf ihren Lernweg genommen haben!

Anna Lena Hemmer
Integrationskoordination
Burgenlandkreis