Forschungsbericht | neue Erkenntnisse: Zukunftschancen für Geflüchtete in ländlichen Regionen – Wie Kommunen aktiv Migrationspolitik gestalten können

Veröffentlicht am: 05.10.2021
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„Ich glaube, dass die im Endeffekt, wenn die rückblickend mal sagen für ihre Zeit in Deutschland oder wenn sie später noch hier sind, dass sie positiv zurückschauen. Dass sie nicht sagen müssen: „Da bin ich schlecht aufgenommen worden“ […]“

(B_IV_ZIV_196 – Zivilgesellschaftliche:r Akteur:in)

Sechs Jahre nach dem langen Sommer der Migration lassen sich Engagement und Einsatz in der Integrationsarbeit ländlicher Kommunen in Deutschland als „positiv mit Herausforderungen“ zusammenfassen. Der Forschungsverbund „Zukunft für Geflüchtete in ländlichen Räumen“ nahm in den vergangenen dreieinhalb Jahren in acht Landkreisen[1] und dort in 32 Städten und Gemeinden das Gelingende aber auch das Herausfordernde an kommunaler (ländlicher) Migrationspolitik unter die wissenschaftliche Lupe.

So wurden rund 373 qualitative, teils biographisch-narrative und mehrstündige Interviews vor Ort durchgeführt. Gesprächspartner:innen waren entweder Expert:innen aus den Bereichen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft oder aber Expert:innen mit eigener Fluchterfahrung und davon größtenteils Personen, die im Sinne eines Aufenthaltstitels als anerkannte Geflüchtete gelten. Eine Vielzahl von Erhebungs- und Auswertungsmethoden, wie beispielsweise Erreichbarkeits- und Medienanalysen aber auch Mobility Maps und Fokusgruppen, kamen im interdisziplinär arbeitenden Forschungsverbund zum Einsatz.

Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse, inwiefern ländliche Entwicklungspolitik, Regionalmanagement und humanitäre Aufgaben miteinander verbunden werden können, wurden für das Forschungsprojekt geeignete Untersuchungskommunen identifiziert. In vier Bundesländern, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen, konnten so acht Landkreise[1] mit jeweils einer sozioökonomisch stärkeren beziehungsweise schwächeren Position ausgewählt werden. Innerhalb der Landkreise wurden jeweils vier Städte oder Gemeinden bestimmt, um ein regional diverses Bild darstellen zu können. Denn nichts ist so sicher, wie dass ländliche Landkreise sehr vielfältig sind. Nicht zuletzt veränderten viele Landkreise durch Kreisreformen ihre Grenzen und Gemeinden ihre Zugehörigkeiten; ein Wandel, der noch heute in einigen Landkreisen in den Expert:inneninterviews deutlich wird.

Ländliche Kommunen unterliegen, ebenso wie urbane Kommunen, bestimmtem Einflussfaktoren, die lokale Politik – in diesem Fall Migrationspolitik – beeinflussen. Dies sind zum einen strukturelle und institutionelle Faktoren, die quasi Startbedingungen der Kommune sind (defining factors). Zum anderen sind dies „transformierende“ Faktoren wie lokale Schlüsselpersonen und Diskurse (transformative factors), welche letztendlich ausschlaggebend sein können, ob eine Kommune eine aktive Migrationspolitik verfolgt und gestaltet, oder ob eine Kommune eine vielmehr reaktive Migrationspolitik ausübt und die Maßnahmen nicht über die pflichtigen Aufgabenbereiche hinausgeht (Schammann et al. 2021).


 

Befunde und Handlungsempfehlungen – Ländliche Räume und Migration

Anhand von drei ausgewählten Themenfeldern, ihren Befunden und Empfehlungen (insgesamt wurden 15 Themenfelder mit mehreren Befunden und Handlungsempfehlungen veröffentlicht), wird im Folgenden ein Einblick in die Erkenntnisse des Forschungsprojekts gegeben. Die Handlungsempfehlungen zeigen auf, an welchen Stellschrauben Kommunen ansetzen können, wenn sie die Zukunftschancen von Geflüchteten in ländlichen Regionen mitgestalten möchten. Denn ländliche Kommunen können, wenn der politische Wille und aktive Schlüsselpersonen (transformative factors) vorhanden sind, über lokale Migrationspolitik das Zusammenleben vor Ort positiv beeinflussen, und so auch eine echte Alternative zu urbaner geprägten Regionen für alle Menschen schaffen.

1) „Migrant:innen an der Gestaltung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beteiligen und Zuwanderung sowie Vielfalt als Bestandteil lokaler Erzählungen sichtbar machen“

Die untersuchten Regionen haben allesamt bereits seit mehreren Jahrzehnten Erfahrungen mit Zuwanderung. Diese Erfahrungen entspringen zum einen dem stark touristisch geprägten Umfeld. Zum anderen fußen sie auf Erfahrungswerten mit Arbeitsmigration („Gastarbeiter:innen“), Spätaussiedler:innen und Fluchtmigration.

Und man braucht ja bloß einmal viele Jahre zurückdenken, bei uns in unserem Landkreis waren es ja die Italiener, die bei uns in den Molkereien überall gearbeitet haben, die Gastarbeiter damals. Die Griechen, danach die Türken, die leben alle hier. Und wir haben auch hier genügend Tschechen, die gar nicht mehr als Ausländer gesehen werden, die gehören ja mit dazu. Und so wird es bei vielen syrischen Familien auch sein. Die werden hier sesshaft, bleiben, und gehören dann einfach dazu

(B_IV_VER_198 – Verwaltungsmitarbeiter:in).

So verwundert es nicht, dass Migration kein grundsätzlich neues Phänomen für die Landkreise und ihre Kommunen ist. Doch um Migration letztendlich auch als Potenzial für die ländliche Entwicklung nutzen zu können, muss vor allem auch Teilhabe gewährleistet sein. Bei allem Bewusstsein für die lokale Migrationsgeschichte bleibt noch Luft nach oben für Partizipationsmöglichkeiten und Mitgestaltung all derer, die „neu“ zugewandert sind. Daher schlägt der Forschungsverbund folgende Handlungsempfehlungen vor:

Partizipationsverfahren jenseits des Wahlrechts sollten gestärkt werden

Beteiligungsverfahren für Bürger:innen sollten ausgebaut werden – sowohl online als auch offline. Gleichzeitig müssen neue Zielgruppen, wie Migrant:innen, für diese Verfahren gewonnen werden. Beiratsmodelle für den Einbezug der Perspektive nicht-wahlberechtigter Bürger:innen sollten eingeführt und an lokalspezifische Belange angepasst werden. Schließlich sollte die Selbstorganisation Geflüchteter aktiv durch Politik und Verwaltung gefördert werden.

Rural Citizenship einführen

Um das fehlende Wahlrecht abzumildern, die Identifikation mit der Region zu stärken und symbolische Zugehörigkeit zu gewährleisten, können Landkreise oder kreisangehörige Kommunen nach dem Beispiel der Urban Citizenship Dokumente für Migrant:innen ausstellen, die einerseits zur Inanspruchnahme lokaler Dienstleistungen berechtigen (relevant insbesondere bei Menschen ohne geklärte Identität, u. a. um Bankkonten zu eröffnen). Andererseits kann so auch eine Teilnahme an lokalen Beteiligungsprozessen ermöglicht und angeregt werden. Dabei geht es nicht darum, einen tatsächlichen Rechtsstatus zu schaffen, sondern vielmehr das Signal zu senden, dass alle vor Ort lebende Personen als Bürger:innen begriffen werden.

Interkulturelle Öffnung vorantreiben

Nur wenn die Verwaltung, aber auch Wohlfahrtsverbände oder Vereine die Gesellschaft widerspiegeln, können sie ihre gesellschaftliche Funktion adäquat erfüllen. Interkulturelle Öffnungsprozesse sind daher notwendigerweise Teil jeder Strategie zum gesellschaftlichen Wandel in ländlichen Regionen. Ein wichtiges Bewertungskriterium für den Stand interkultureller Öffnung ist der Anteil von Personen mit eigener Migrationserfahrung auf allen hierarchischen Ebenen aller lokalen Organisationen.

Lokale Optionen zur Rahmung von Zuwanderung prüfen

Gibt es lokale Erzählungen zu Vielfalt, Mobilität oder Interkulturalität, in deren Rahmen die Integrationsarbeit diskutiert werden kann? Wie können diese in der lokalen Öffentlichkeit stärker sichtbar gemacht werden? Dabei geht es nicht darum, eine neue Erzählung künstlich zu entwickeln. Dies wird nicht gelingen. Vielmehr geht es darum, aus den bestehenden Gewissheiten und Selbstbildern der Region ein anschlussfähiges Narrativ herauszufinden – und dieses dann konsequent zu bedienen. Ist eine Region beispielsweise besonders vom Tourismus geprägt und wird dadurch etwa das lokale Selbstverständnis als weltoffene und kontaktfreudige Kommune gepflegt, so bieten sich hier Möglichkeiten der Verknüpfung.

2) „Lokale Verwaltungspraxis kohärent und kooperativ gestalten“

Auch wenn Migration keine unbekannte Variable für ländliche Kommunen ist, haben die Organisation und strategische Ausrichtung von Migrationspolitik sowie die Strukturen zur Integrationsarbeit vielerorts erst so richtig mit dem Sommer der Migration (2015) an Fahrt gewonnen. Gerade im Bereich der Governance (Steuerung von Migrations- bzw. Integrationspolitik und -arbeit) zeigt sich deutlich die heterogene Herangehensweise der Kreise. Wo an einem Ort die Kompetenzbereiche Ausländerrecht, Asyl und Integration zusammengelegt wurden, hat man sie anderenorts auf mehrere Abteilungen oder Fachgebiete verteilt. In der Analyse zeigt sich, dass verschiedene Governance-Modelle funktionieren. Jedoch lässt sich für die Handlungsempfehlungen an die kommunale Ebene recht deutlich formulieren: Unabhängig von der Organisationsstruktur sollte die kommunale Verwaltungspraxis kohärent und möglichst frei von divergierenden Handlungen sein.

Klare Aufgabenverteilung sichern, Austausch verstetigen

Eine klare Zuweisung von Kompetenzen und Aufgaben zwischen Organisationseinheiten, aber auch zwischen Landkreis und Kommunen trägt dazu bei, Unsicherheiten und Passivität vorzubeugen. Regelmäßige und institutionalisierte Steuerungsrunden helfen, nachhaltige Strukturen aufzubauen – auch in Zeiten, in denen das Thema Zuwanderung nicht als erstes auf der tagespolitischen Agenda steht. Dadurch lässt sich auch Vertrauen aufbauen und erhalten, sowohl unter den verschiedenen Einheiten der Verwaltung als auch mit anderen Akteur:innen wie beispielsweise Wohlfahrtsverbänden und Wirtschaftsvertreter:innen.

Pflichtige und freiwillige Aufgaben zusammendenken

Ein lokaler strategischer Ansatz sollte ebenso wie eine verwaltungsinterne Steuerungsgruppe zum Thema Integration unbedingt auch die Organisationseinheiten umfassen, die die Pflichtaufgaben der Migrationspolitik vor Ort mitgestalten, wie etwa das Gesundheitsamt oder die Ausländerbehörde. Eine Steuerungsgruppe, in der nur die Akteur:innen der freiwilligen kommunalen Aufgaben zusammenkommen, genügt nicht für eine kohärente Migrationspolitik.

Leitbild entwickeln

Die lokale Integrationspolitik sollte mindestens auf Kreisebene, aber bestenfalls auch in kreisangehörigen Kommunen einem Leitbild folgen, das unter Beteiligung der Zivilgesellschaft ausgehandelt wurde. Dies muss kein umfassendes Integrationskonzept sein, sondern kann auch ein »Einseiter« mit den Antworten der zentralen Akteur:innen auf die zwei wichtigsten Fragen sein: Was sind die zentralen Ziele unserer Integrationsarbeit? Für welche Behörden und Organisationen gelten diese Ziele? Dies hilft gerade in der alltäglichen Verwaltungspraxis und bei kleinen Konflikten zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft ungemein.

3) „Ländliches Potenzial für systemische Lösungsansätze nutzen“

Ländliche Kommunen bieten die Chance, dass Aufgaben der Migrationspolitik und Integrationsarbeit stärker mit anderen ohnehin bestehenden Netzwerken und Strukturen zusammengedacht werden können. Die bestehenden Kommunikationsstrukturen, der „kurze Weg“ zwischen Verwaltungseinheiten, Politik und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, beispielsweise durch Doppelrollen von Personen, sind das „ländliche Potenzial“.

Vorteil [in ländlichen Räumen] ist eben die Kommunikation. Man spricht ja miteinander, man kennt sich untereinander. Wir können dadurch eben auch sehr flexibel reagieren auf individuelle Sachverhalte. Nicht wie so ein großer Tanker, den man immer erst über Kilometer dann irgendwo rumreißen muss. Sondern wir können relativ flexibel, und auch relativ zeitnah reagieren, auf Veränderungen und Problemstellungen. Also das macht das Ländliche aus, dass man sich untereinander kennt, und dass man eben gut vernetzt ist hier.

(D_VII_VER_258 – Verwaltungsmitarbeiter:in)

Brückenbauer:innen identifizieren und stärken

Landkreisverwaltungen sollten im Schulterschluss mit den Bürgermeister:innen haupt- und ehrenamtliche Schlüsselpersonen in den Kommunen identifizieren, die für eine systemische Perspektive stehen und verschiedene Bereiche zusammenbringen. Sie sollten sie in strategische Entscheidungen einbeziehen und damit das typisch ländliche Potenzial systemischer Lösungskompetenz besser nutzen.

Förderprogramme zur Stärkung systemischer Ansätze auflegen

Bund und Länder können mit der Ausschreibung von Förderprogrammen zur Stärkung systemischer Ansätze an den Potenzialen ländlicher Räume ansetzen, anstatt wie in vielen »urbanozentrischen« Programmen tendenziell die Übertragung großstädtischer Lösungsansätze zu fördern. Auch die Idee der Entwicklung eines kommunalen Integrationspakets, wie es bereits in der Kurzexpertise „Alles Gold was glänzt?“ befürwortet wird, erscheint auf Grundlage der finalen Ergebnisse des Forschungsprojekts weiterhin erstrebenswert.

Zusammenfassung

Neben den oftmals zitierten Herausforderungen ländlicher Regionen, wie etwa Infrastruktur (Mobilität) oder eine alternde bzw. abwandernde Bevölkerung, konnte der Forschungsverbund vielseitige Chancen in ländlichen Räumen aufzeigen, die eine aktive Migrationspolitik unterstützen können und Zukunftschancen, also auch den Verbleib von Geflüchteten in ländlichen Kommunen, wahrscheinlicher machen. Das große Potenzial ländlicher Kommunen ist demnach das Engagement lokaler Schlüsselpersonen in Verbindung mit dem politischen Willen, lokale Migrationspolitik zu gestalten.

Die hier aufgezeigten Handlungsempfehlungen sprechen bewusst alle beteiligten Akteur:innen an. Sie fordern die politisch Verantwortlichen, aber auch die ehrenamtlich Engagierten in der Zivilgesellschaft dazu auf, Migrant:innen an der gesellschaftlichen Gestaltung teilhaben zu lassen, Vielfalt und Zuwanderung sichtbarer zu machen, die lokale Migrationspolitik und Praxis kohärent zu gestalten und eben auch die ländlichen Potenziale und Strukturen zu nutzen. Gerade in den vergangenen eineinhalb Jahren, die stark durch die Covid-19-Pandemie geprägt waren, sind Themen rund um Migration und Integration augenscheinlich etwas in Vergessenheit geraten. Dabei sind die damit verbundenen Aufgaben tägliche Routine in allen ländlichen Kommunen und somit ergibt sich auch jeden Tag neu die Möglichkeit, Migrationspolitik, Integration und Teilhabe zu gestalten. Die formulierten Handlungsempfehlungen des Forschungsverbunds sind somit vor allem auch als Anstoß zur Weiterentwicklung und Verbesserung kommunaler täglicher Praxis gemeint.

Christin Younso


[1] Bayern: Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim, Regen; Hessen: Waldeck-Frankenberg, Werra-Meißner-Kreis; Niedersachsen: Northeim, Vechta; Sachsen: Bautzen und Nordsachsen.